Wie jeden Mittwochnachmittag nach der Schule scrollt die 16-jĂ€hrige Lisa auf Instagram. Sie hat gerade ein Selfie gepostet â nichts Besonderes, einfach ein Bild von ihr in ihrem Lieblings-T-Shirt. Wenige Minuten spĂ€ter ploppt eine Nachricht von einem Account auf, der ihr unbekannt ist: «Du siehst echt gut aus! Willst du noch mehr zeigen?» Lisa zuckt mit den Schultern, sie ist solche Nachrichten gewohnt und wischt sie weg. Was sie nicht ahnt: Drei Tage spĂ€ter wird sie genau dieses Foto in völlig anderem Kontext wiedersehen. Auf ihrem Handy landet eine Nachricht vom selben Account: «Zahl 400 Franken, sonst schicke ich dieses Bild an deine Eltern.»
AngehĂ€ngt ist ein Bild, das sie scheinbar nackt zeigt â ein Bild, das sie nie gemacht hat. Ihr Herz rast. Es sieht so echt aus, dass selbst sie kurz zweifelt. Panik steigt in ihr auf: Wie konnte das passieren? Wem kann sie sich anvertrauen?
Ăhnliche Szenen wiederholen sich im Leben vieler Jugendlicher. Aus harmlosen Aufnahmen, wie dem Selfie von Lisa, wird Erpressungsmaterial. Die Kriminellen nutzen die gefĂ€lschten Bilder, um Geld zu fordern oder die Betroffenen weiter zu manipulieren. Die Hemmschwelle, persönliche Inhalte zu posten, ist bei Jugendlichen niedrig â was sie zu leichten Zielen macht.
Auch der 17-jĂ€hrige Felix hat die perfide Taktik bereits am eigenen Leib erlebt. Es war ein ganz normaler Freitagabend, Felix zockte mit Freunden online, als ein anderer Spieler ihm Komplimente machte. Sie verstanden sich gut, tauschten Nachrichten und schliesslich auch Bilder aus. Felix dachte sich nichts dabei, als er ein harmloses Foto von sich schickte. Doch wenige Tage spĂ€ter wendete sich das Blatt. Der gleiche Spieler schickte ihm eine bearbeitete Version des Bildes zurĂŒck, auf dem Felix nackt zu sehen war. «Zahl 600 Franken oder das Bild geht an deine Schule.» Felix stand unter Schock.
KĂŒnstliche Intelligenz hat den digitalen Missbrauch auf eine neue Ebene gehoben. Aus simplen Fotos werden realistisch wirkende Bilder, ohne dass das Opfer je solche von sich gemacht hat. Gerade Jugendliche sind besonders gefĂ€hrdet, weil sie schnell und oft Bilder verschicken oder online stellen und die Risiken unterschĂ€tzen, die sie dabei eingehen. Die Folgen fĂŒr die Betroffenen sind gravierend: Scham, Angst, sozialer Druck und das GefĂŒhl, die Kontrolle ĂŒber das eigene Leben zu verlieren.
In den letzten Jahren hat sich das PhĂ€nomen der Sextortion weiterentwickelt â nicht nur durch die Zunahme von Cyber-Sexualdelikten, sondern auch durch den Einsatz moderner Technologien wie der KĂŒnstlichen Intelligenz. Sextortion ist eine Form der Erpressung, bei der Kriminelle intime Bilder oder Videos ihrer Opfer verwenden, um Geld oder weitere sexuelle Inhalte zu fordern. Dabei erschleichen sie sich zunĂ€chst das Vertrauen der Betroffenen, oft ĂŒber soziale Medien oder Dating-Plattformen, und bringen sie dazu, intime Fotos zu schicken.
Sobald die TĂ€ter das Material besitzen, drohen sie mit der Veröffentlichung an Freunde, Familie oder Arbeitskolleginnen, sollten ihre Forderungen nicht erfĂŒllt werden.
Es sei unfassbar, wie realistisch solche Bilder wirken, sagt Regula Bernhard Hug von Kinderschutz Schweiz im Interview mit Watson. Sie berichtet von einer steigenden Zahl von BeratungsfÀllen, in denen Jugendliche mit KI-generierten Nacktbildern erpresst werden. TÀter nutzen dabei harmlose Fotos aus dem Netz, um mit Deepfake-Algorithmen pornografische Inhalte zu erstellen.
Die KI-Technologie, die ursprĂŒnglich fĂŒr kreative und kommerzielle Zwecke entwickelt wurde, wird in den falschen HĂ€nden zu einem gefĂ€hrlichen Werkzeug: Mit Deepfake-Techniken können Gesichter von Personen in Videos oder Fotos eingefĂŒgt werden, die nichts mit den dargestellten Szenen zu tun haben.
Den TÀtern reichen oft komplett harmlose Fotos wie beispielsweise Profilbilder, um daraus etwas Kompromittierendes zu erstellen. Auffallend: Zu den Opfern gehören besonders hÀufig junge Menschen. Laut Schweizer Kriminalstatistik waren 2023 85 Prozent der Betroffenen von Cyber-Sexualdelikten in der Schweiz unter 20 Jahre alt.
Ein Beispiel dafĂŒr ist der Fall eines damals 13-jĂ€hrigen MĂ€dchens, dessen Bilder mit KI verfremdet und anschliessend an ihren Vater geschickt wurden, wie Watson berichtete. Die TĂ€ter drohten damit, die gefĂ€lschten Inhalte öffentlich zu machen, sollte kein Geld gezahlt werden. FĂŒr die Familie war es zunĂ€chst nicht erkennbar, dass es sich bei den Bildern um FĂ€lschungen handelte.
GemĂ€ss der James-Studie 2022 der ZHAW wurde jeder zweite Teenager bereits einmal online sexuell belĂ€stigt und beispielsweise dazu aufgefordert, intime Fotos zu verschicken. Diese Anfragen stammen zwar hĂ€ufig von Fremden, die ĂŒber soziale Netzwerke Kontakt aufnehmen und Vertrauen aufbauen, um spĂ€ter Kontrolle ĂŒber ihre Opfer zu erlangen. Doch auch Menschen aus dem nĂ€heren Umfeld, wie Schulkollegen oder Ex-Partner, stellen eine nicht zu unterschĂ€tzende Gefahr dar. Gerade in solchen FĂ€llen kann die emotionale Manipulation noch tiefgreifender und schwerer zu durchschauen sein.
Die zunehmende Verbreitung von KI-gestĂŒtzter Sextortion zeigt, wie wichtig prĂ€ventive Massnahmen sind. Organisationen wie Kinderschutz Schweiz und Pro Juventute haben in den letzten Jahren verstĂ€rkt Kampagnen gestartet, um Jugendliche und Eltern fĂŒr dieses Thema zu sensibilisieren. Ganz nach dem Motto «Was du online teilst, teilst du mit allen» sollen junge Menschen dazu angeleitet werden, vorsichtiger mit ihren Daten umzugehen und die Risiken des digitalen Lebens besser zu verstehen.
Die Polizei empfiehlt zudem, bei Drohungen sofort Anzeige zu erstatten und keinesfalls auf Erpressungsversuche einzugehen. Der Kontakt zu den TĂ€tern sollte sofort abgebrochen und die Beweise gesichert werden. Eltern sollten ihre Kinder unterstĂŒtzen und ihnen klarmachen, dass die Schuld immer bei den TĂ€tern liegt â nicht bei den Betroffenen, die in diese Situation geraten sind.